Angelika Wende am 17. April 2015 —

Gefährliche Zeiten: Vom Alt werden

Für mich beginnt alt werden dann, wenn wir die Fünfundfünzig überschreiten, denn dann geht es stramm auf die Sechzig zu, dem Herbst des Lebens entgegen. Und der ist kurz, das Meiste ist gelebt, das muss man sich einmal klar machen. Zugegeben keine leichte Übung, ohne gleich eine klitzekleine gepflegte Panikattacke zu bekommen. Wahr ist, wer die Mitte der Fünziger überschreitet weiß, es ist nicht mehr all zu viel Zeit übrig, definitiv weniger als die Zeit, die bereits gelebt ist. Der Winter des Lebens ist mitunter noch kürzer oder lang und ziemlich grau und kalt, wenn ich mir die Schicksale vieler alter Menschen anschaue, die allein ihr Leben verbringen, ohne Hoffnung, dass etwas anderes ihre gebrechliche Einsamkeit beenden könnte als der Tod, der alles beendet und damit auch die Einsamkeit. Aber wer will schon lieber tot sein als einsam, ich nicht.

Da fällt mir ein Gedanke des Psychoanalytikers Otto Rank ein:

Der Mensch ist sein Leben lang zwischen zwei Polen der Angst hin und her geworfen: zwischen Lebens – und Todesangst. Die Lebensangst ist die Angst, sich dem Leben als isoliertes Individuum zu stellen, die Angst vor der Individuation, davor vorwärts zu gehen. Die Todesangst ist die Furcht vor der Auslöschung, dem Verlust der Individualität, davor sich wieder im Ganzen aufzulösen,

schreibt Rank sinngemäß. Darüber lohnt es sich eine lange Weile nachzudenken, besonderes, wenn man das selbst nicht so fühlt. Ich nicke an dieser Stelle. Ich empfinde das so und ich habe Angst, allerdings mehr vor dem Tod, besonders jetzt, wo ich im Frühling, der vor meinem Fenster mit aller Kraft aufbricht, in meinen persönlichen Herbst wandere.

Nicht schön

Ich werde alt. Meine Freunde werden alt. Was aber ist alt?

Das ist jetzt kein schöner Einstieg in das Thema Alt werden, ich weiß. Das liegt daran, dass ich alt werden nicht schön finde, außer, dass ich es schön finde noch immer zu leben, es könnte ja auch anders sein. Aber wie lange lebe ich noch? Ich habe nicht die leiseste Ahnung und das ist gut so und wieder nicht gut, denn wenn ich es wüsste, könnte ich leichter entscheiden, was ich mit der mir verbleibenden Lebenszeit anfangen will, was ich wirklich als wesentlich für mich empfinde und es radikal leben, was ich bisher nicht mache, weil ich oft denke, ich habe so viele Möglichkeiten, probier sie alle aus. Aber das wird nicht mehr lange so sein, das mit dem alles ausprobieren, weil die Zeit doch etwas knapp wird, für Alles.

Das Alter ist eine Herausforderung für alle Menschen, auch für die, die mir sagen, und das meist mit einer wegwischenden Handbewegung, was viel mehr über den wahren gefühlten Gehalt ihrer Worte aussagt, als das Gesprochene: „Och, macht doch nichts, wir werden alle alt, man ist so alt wie man sich fühlt.“ Man möge mir verzeihen, ich kann bei solchen Platitüden nur denken, „Dummkopf, wem willst du da grade etwas vormachen? Dir oder mir?“ Dem Alter das Positive abgewinnen ist eine Kunst und diese erfordert meiner Meinung nach eine ziemliche Verrenkung um darin Meisterschaft zu erlangen. Aber ich schaffe das, wenn die Zeit, die Weisheit und die Gelassenheit, die mir das Alter hoffentlich schenken, dabei helfen. Mit Platitüden und dem Wegwischen dessen, was ich nicht sehen will, wird das allerdings nichts.

Point of no return

Das Alter ist Gegenstand medizinischer, biologischer psychologischer, philosophischer, sozialgeschichtlicher, literarischer und sozial- und kulturwissenschaftlicher Betrachtung. Mit den mit dem Älterwerden und dem Altsein verbundenen Phänomenen, Problemen und Ressourcen beschäftigt sich die Alterswissenschaft, die Gerontologie. Aber trotz aller wissenschaftlicher Analyse und Auseinandersetzung mit dem Alter, gibt es eine unumstößliche Tatsache: Die Mitte des Lebens, der Zenit unserer gelebten Zeit, ist eine Zeit von höchster psychologischer Wichtigkeit: Sie ist der Point of no Return.

Die Mitte des Lebens ist ein Höhepunkt und jedem Höhepunkt folgt unwiderruflich die Bewegung nach unten. Eine gefährliche Zeit für viele von uns.

Die Bewegung nach unten ist zunächst einmal nichts Negatives, wenn wir nicht bewerten. Aber hier macht es Sinn genau das zu tun. Was das Altern angeht bedeutet nach unten, was unseren Körper betrifft, es beginnt ein langsamer und stetiger Verfall, vorausgesetzt es trifft uns nicht das Schicksal einer schweren Krankheit, die diesen Verfall beschleunigt oder gar vorzeitig mit dem Tode beendet. Im Alter krank zu werden ist, wie die Erfahrung zeigt, von hoher Wahrscheinlichkeit. Der Körper verbraucht sich mit dem Vergehen von Zeit und mit dem, was in der Zeit geschieht. Er zeigt Abnutzungserscheinungen.

Nichts bleibt in den Kleidern stecken.

Wir können unsere Erfahrungen, besonders die leidvollen nicht einfach abstreifen wie ein Kleidungsstück. In jeder einzelnen Zelle sind sie gespeichert, unsere Wunden und unsere Verletzungen. Wir gehen nicht unverwundet durchs Leben – keiner von uns tut das. Die körperlichen Kräfte lassen spürbar nach, bei den Meisten von uns modernen Menschen, die ihre Tage nicht mit Muße und Kurzweil verbringen, sondern mit einer Menge Stress und emotionalen Belastungen. Das nennt man Leben und jetzt komme mir bitte keiner mit Spaß, Freude, Kontemplation und Spiel. Die wenigsten, die ich kenne, würden so ihren Lebensalltag beschreiben und es wäre auch glatt gelogen. Die Nischen, um Zeit in Muße zu verbringen, müssen sich die meisten Menschen hart abringen. Das Leben ist ein Kampf ums Überleben – monitär, emotional und seelisch, und wenn ich mir die Gesichter da Draußen anschaue, komme ich nicht umhin zu sagen: nach Spaß, Freude und Spiel sehen sie alle nicht aus, sie kämpfen, mit sich selbst vor allem mit den Umständen des Lebens, die nicht immer dem entsprechen, was wir selbst wollen.

Die Gefahr, dass der Körper irgendwann nicht mehr die Widerstandskraft hat, alles zu schlucken und gesund zu verdauen, ist hoch, denn was die Seele nicht verarbeitet, manifestiert sich in körperlichen Symptomen und Erkrankungen. Die Seele und der Körper wollen das Gleiche. Als Substanz aller Lebewesen ist die Seele die Form, sie ist selbst körperlos, sie ist die Essenz, die unser Körper umhüllt, sie der Mittelpunkt, der Kern des Körpers. Alles was wir tun ist Seele in Aktion, ist Seele in Verkörperung. Schon Aristoteles wusste, der Körper wird regiert von seiner Form, der Psyche, der Seele. Er nannte diese Interaktion enérgia, (Lebens)energie. Diese Lebensenergie ist endlich.

Mit Energieverlust in die Endlichkeit

Das Altern ist der Weg, der mit einhergehendem Energieverlust in die Endlichkeit führt. Ein Prozess, der auf drei Ebenen geschieht – körperlich, seelisch und geistig.
Am wenigsten beeinflussbar ist die körperliche Ebene. Auch wenn wir gesund leben, nicht rauchen, nicht trinken, auf eine bewusste Ernährung achten und uns bewegen – nichts davon ist ein Garant, der uns vor Verfall und Krankheit schützt. Gesundheit unterliegt nicht unserem Einfluss, auch wenn wir das nur allzu gerne glauben wollen, und alles, was wir nicht beeinflussen können macht uns Angst. Daher ist es ganz natürlich, dass viele Menschen Angst haben alt und krank zu werden. Beides zugleich ist eine schwere Bürde und ein großes Leid, das sich keiner von uns wünscht, vorstellen kann oder glaubt „verdient“ zu haben.

Altersheimszene

Alter ist gekonnter Umgang mit der Angst.

Auch das und vor allem das. Wir haben Angst unsere letzten Jahre nicht so zu erleben, wie wir es uns vorstellen. Und die Realtität in der wir leben, beweist uns, dass diese Angst durchaus berechtigt ist. Ich kenne viele Ehen, die im Alter zerbrechen, ich kenne Menschen, die im Alter schwer erkranken, ich kenne Menschen, deren Existenz im Alter vollkommen zuammenbricht und ich kenne Menschen, die in diesem Alter viel zu früh von uns gehen. Die einzige Haltung die wir dieser realen Angst entgegen setzen können ist die Überzeugung – egal was kommt, ich werde damit fertig – trotz der Angst. Das ist gekonnter Umgang mit der Angst – Angst zulassen und trotzdem den Mut der Zuversicht zu üben und ihn zu leben. Jenseits von Alterspessimismus und Altersverklärung sollte eine Auseinandersetzung mit diesem archetypischen Thema aber vor allen Dingen das Altern selbst als conditio humana, als allgemeine Bedingung des Menschseins und der Natur des Menschen, ernst nehmen und nach Wegen und Möglichkeiten suchen, wie wir unser Altern in seiner Unabwendbarkeit und als natürlichen Prozess sinnvoll als letzte Phase in unser irdisches Lebens integrieren können. Es macht Sinn, sich damit zu befassen, denn auch Wissen ist ein gutes Mittel gegen die Angst, ebenso wie das Denken – und zwar das Konstruktive.

„Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern“,

schreibt der Philosoph Ernst Bloch im hohen Alter. Wer sich aufs Hoffen verlegt, macht den ersten Schritt, wer hoffnungsvoll handelt, wobei mir Zuversicht besser gefällt, denkt und handelt im Bewusstsein des Gelingens. Und es ist völlig egal, ob er dann trotzdem scheitert, die gelebte Zeit in der Zuversicht, sie gestalten zu wollen und zu können ist Lebensbejahung und jedes Ja zum Leben schenkt uns Kraft und Lebensfreude. Egal wie alt wir sind. Irgendwann trifft sie jeden von uns: die Erfahrung von Endlichkeit, die Angst vor Einsamkeit, Krankheit, Sterben und Tod, die Vergänglichkeit und der damit einhergehende Verfall und die Entfremdung vom eigenen Körper, vor allem aber: die Frage nach dem Sinn unseres Lebens und die Akzeptanz des endgültigen Abschieds vom Leben. Der Geist fragt ständig nach dem Sinn des Lebens. Die Sinnfrage ist eine Grundfrage des Menschen, die wir uns in jedem Alter stellen. Angesichts des näher rückenden Lebensendes wird sie jedoch drängender. Was uns unbewusst oder bewusst klar wird ist die Irreversibilität und das Vergehen der Zeit. Und damit kommt eben genau die Frage: Was war und was mache ich mit dem unbekannten Rest, der mir noch bleibt?

Es bleibt nicht mehr allzu viel Zeit.

Zeit ist Veränderung. Und mit dem Fluss der Zeit geht auch das Wunder des Neuen, des Unbekannten, des noch nicht Erforschten und des noch nicht Erfahrenen einher. Im Alter gibt es nicht mehr allzu viel Neues zu entdecken. Menschen, die ihr Leben aktiv, bewusst und neugierig gelebt haben, wissen, dass es so ist. Nicht mehr allzu oft ist da dieses wundervolle staunende erste Mal. Das Staunen verliert sich, ob des bekannt Vertrauten. War die kindliche und jugendliche Lebensphase ein schier unerschöpflicher Kurs im Wundern, so wundern wir uns mit zunehmendem Alter immer weniger. Man nennt das Gelassenheit. Sie ist zum einen eine Qualität, zum anderen ein Verlust, ein Verlust an Naivität, Unschuld, Staunen, Euphorie, Leidenschaft, Extase und Leichtigkeit.
Das Alter kennzeichnet sich durch Schwere und Schwäche.

Schwerkraft

Die Schwerkraft zieht nach unten, die Gesichtszüge, die Haut, die Gedanken, die Gefühle. Schwere und Schwäche ziehen uns nach unten in Richtung Erde.

„Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen, bis dass du wieder zur Erde kehrst, von der du genommen bist; denn du bist Staub und kehrst wieder zum Staub zurück!“ (Genesis 3,1)

Erde zu Erde, Staub zu Staub – ein natürlicher Vorgang, wenn auch unschön und beängstigend, denn wir wollen nicht zu Staub verfallen. Wir haben aber keine Wahl. Am Ende sind wir wahllos und unser Wille richtet rein gar nichts mehr aus gegen das Unabänderliche. So gesehen ist der Körper unserem Geist in seinem „nach unten gehen“ voraus und damit zeigt er uns wieder einmal seine unendliche Weisheit.

Der Körper lügt nicht, er spricht die Sprache der Seele.

Jeder Versuch das Altern künstlich aufzuhalten ist ein untauglicher Versuch am untauglichen Objekt, es ist schierer Selbstbetrug und zugleich ein sinnloser Eingriff in die Natur. Botoxspritzen, Liftings, und kostspielige Anti-Aging Maßnahmen sind äußere Zeichen des inneren Widerstandes gegen die eigene Natur, die über künstlich verlängerte Haltbarkeitsdaten nur lächelt, denn auch wenn wir uns die Falten aus dm Gesicht spritzen lassen, der Hals und die Hände zeigen die Wahrheit. Da sind dann manche Teile Sechzig und manche Vierzig und bitte sehr, wie sieht das aus? Mit Harmonie hat das nichts zu tun und Harmonie ist für mich der Ausdruck von Schönheit, Innen wie Außen. Wie viel Kraft kostet so ein Widerstand, wie viel Energie, die Lebensenergie raubt, die sich anders und sinnvoller nutzen ließe. Wir sehen, wenn wir uns unters Messer des Schönheitschriurgen begeben haben, vielleicht im Gescht jünger aus – wir sind es aber nicht. Wir glauben der Zeit ein Schnippchen schlagen zu können, die Zeit interessiert das aber nicht. Sich im Alter krampfhaft und mit allen Mitteln jung zu geben wirkt lächerlich und ist würdelos. Sich dem Alter hinzugeben im Sinne von – sich ihm zuwenden – ist weise. Und Weisheit hat auch ihre Schönheit. Ich erinnere hier an die wegwischende Handbewegung.

„Werde, der du bist“, schreibt Friedrich Nietzsche. Und alle klugen Leute nicken zustimmend. Aber wie wollen wir werden, wer wir sind, wenn wir nicht einmal fähig sind, zu akzeptieren, dass wir altern und irgendwann auch alt sind.

Wenn wir verzweifelt versuchen einen Zustand im Außen wieder herzustellen, der sich längst überlebt hat, ist das nicht im Sinne eines Werdens und nicht im Sinne einer Entwicklung nach Vorne. Wer nicht altern will bleibt stecken. Wie eine Schlange, die sich nicht häutet, in der alten Haut. Übrigens – die Schlange würde ersticken. Was ersticken wir mit einer Verweigerung, die sich gegen das Vergehen der Zeit, gegen die Vergänglichkeit dessen, was wir sind, richtet? Diese Frage möge sich jeder selbst beantworten.

Loslassen

Heraus lösen, sich lösen, loslassen ist eine der großen Aufgaben des Alters. Es ist zugleich die Aufgabe mit der Angst zu leben, auch mit die Angst nicht genug gelebt zu haben, nicht erreicht zu haben, was wir uns vorgestellt und ersehnt haben und mit genau dieser Angst einverstanden zu sein. Denn sie ist da und je mehr wir uns gegen sie wehren, desto mehr wird sie uns beherrschen und damit lähmen. Das muss so nicht bleiben. Der Weg um Frieden zu schließen, mit sich selbst zufrieden zu sein, ist sich von den Vorstellungen zu lösen, wie man es gern gehabt hätte oder es hätte sein können oder wie man, oder es sein könnte und zulassen wie es ist. Auch das ist eine Kunst. Das Altern mit aller Macht aufhalten zu wollen, das Gelebte zu verdammen oder mit ihm zu hadern und wenn die Zeit knapp wird mit Macht eine künstliche Jungendlichkeit erschaffen zu wollen, die uns alles nicht Gelebte auf den letzten Drücker endlich bringen soll, ist ein künstlicher Akt und alles Künstliche spüren wir und auch die Anderen instinktiv. Alles Künstliche ist unecht und damit gegen das Leben und gegen uns selbst gerichtet und sehr ungesund.

Auch im Alter findet der Geist Möglichkeiten um der verbleibenden Zeit Lebensqualität zu geben, trotz eines nicht mehr jungen Körpers.
„Die Mitte des Lebens ist“, wie C.G.Jung schreibt, „der Moment größter Entfaltung, wo der Mensch noch in seiner ganzen Kraft und seinem ganzen Wollen in seinem Werke steht. Aber in diesem Moment wird der Abend geboren, die zweite Lebenshälfte beginnt. Statt vorwärts blickt man häufig unwillkürlicherweise rückwärts und beginnt sich Rechenschaft zu geben über die Art und Weise wie sich das Leben bisher entwickelt hat. Man sucht nach seinen wirklichen Motivationen und macht Entdeckungen.“

Das letzte Abenteuer beginnt Innen, in uns Selbst.

Das ist das Entscheidende – Entdeckungen machen und zwar im eigenen Inneren. Sich selbst, seine Eigenart, sein Wesen, sein Schicksal und seine Biografie zu verstehen versuchen. Die Fülle von Erlebnismöglichkeiten im eigenen Inneren sehen, den eigenen inneren Raum betreten, beleuchten und sich im eigene Haus heimisch machen – eine Möglichkeit sich mit uns selbst anzufreunden, bevor es zu spät ist. Das ist für mich die größte Aufgabe. Und was wir an Wissen, Erfahrung und Weisheit gesammelt haben an die Nächsten weitergeben, es in die Gemeinschaft tragen, damit es wirken kann. Der Tod ist ein Schatten, den wir nicht abschütteln können, aber wir können, bevor er uns gänzlich umfängt, Licht ins eigene Leben und in das Leben anderer bringen.

Ich kenne alte Menschen, meist sind es künstlerisch orientierte, die im Alter noch großartiges schaffen, die Werke schaffen, die ihnen als junger Mensch so nicht gelungen wären. Ich kenne alte Menschen, die das eigene Leben reflektieren und festhalten. Beispielsweise in Tagebuchaufzeichnungen, im Schreiben der eigenen Biografie. Mit dem Alter ändert sich das Alltagsleben meist radikal. Wir scheiden aus dem Berufsleben aus, die Kinder haben ihr eigenes Leben, nahe stehende geliebte Menschen sterben, das soziale Netz wird immer brüchiger und um vieles kleiner. Das Gefühl nicht mehr gebraucht zu werden stellt sich ein und vor allem erwartet uns im Zweifel die Begegnung mit der Einsamkeit. Und am härtesten trifft diese Einsamkeit die, die nichts haben, was sie von Innen hält, eine Passion, eine Leidenschaft, ein tiefes Interesse oder einfach ein Hobby, das sie lieben.

Davor fürchten sich die meisten Menschen, außer vor Krankheit und Armut. Sie haben Angst alleine und einsam alt zu werden und zu sterben. Und sie stürzen deshalb nicht selten in eine tiefe Krise. Diese an Leib und Seele erlebte Krise steht im Gegensatz zur Auffassung vieler Philosophen, die das Alter schätzen, nicht zuletzt, weil Altern die Fähigkeit einschließt, sich in der späten letzten Lebensphase einen Überblick über das eigene Leben zu verschaffen, Zusammenhänge zu erkennen und damit einen individuellen, möglicherweise tieferen Lebenssinn für sich zu gewinnen als in der Jugend. Um es mit Schopenhauer zu sagen: „Die ersten vierzig Jahre unseres Lebens liefern den Text, die folgenden dreißig den Kommentar dazu.“ Warum ihn also nicht niederschreiben? Warum nicht die Krise nutzen um zu erkennen, wer wir im Tiefsten sind? Klarheit schaffen und aufräumen, was liegen geblieben ist, auch das was im Inneren nach Ordnung schreit. Frieden machen mit dem, was Unfrieden in der Seele stiftet – eine Möglichkeit.

Zukunftslosigkeit

Dennoch wahr ist auch: Alter ist zunehmende Zukunftslosigkeit. Um es in mit Karl Valentin zu sagen: „Die Zukunft war früher auch besser.“
Früher, in der Kindheit und in der Jugend scheint uns die Zeit viel zu langsam zu vergehen. Wir können es kaum erwarten älter zu werden. In der Mitte unseres Lebens erscheint es uns, als renne uns die Zeit davon. Im Alter haben wir das Gefühl sie zerfließt uns in den Händen. Ihre Vergänglichkeit wird zur existentiellen Bedrohung, wenn es uns nicht gelingt, uns mit ihr anzufreunden. Es ist schwer, ich weiß das, es ist schwer zu erfahren wie das, was mir früher mit Leichtigkeit gelang, mich heute Anstrengung kostet und es ist schwer zu spüren, dass ich schneller ermüde und es ist schwer zu sehen, das manches einfach nicht mehr geht. Es ist schwer zu erkennen, das es immer schwerer wird Menschen zu finden, die mir entsprechen und mit denen ich meine kostbare Zeit verbringen will.

Zeit – das magische Wort.

Aber was ist Zeit? Sie ist das beständige Ticken der Zeiger der Uhr, das Vergehen des Augenblicks und der Übergang in den nächsten. Zeit ist Bewegung und Fließen. Aber das Wunder der Zeit ist: Zeit ist immer relativ in unserer Empfindung. Bedrohlich wird sie dann, wenn wir glauben, etwas nicht erledigt zu haben, etwas nicht getan zu haben, etwas versäumt zu haben, etwas verloren zu haben, etwas nicht mehr haben zu können, etwas nie mehr erreichen zu können, etwas nicht mehr wieder gut machen zu können, etwas nicht mehr ändern zu können, etwas nicht mehr wieder zu bekommen, etwas nie mehr zu bekommen oder etwas nie mehr tun zu können. Aus jedem nie mehr resultieren Fragen, die geradezu danach schreien Antworten zu finden. Diese dann neu zu deuten, sie anders zu betrachten, sie zu relativieren, Ambivalenzen herauszufinden und sich am Ende vielleicht zu sagen – ich habe das getan, was ich genau in diesem Moment in der Zeit habe tun können, was in meiner Macht stand in diesem Moment auf meiner Entwicklungsstufe. Das ist der Beginn des inneren Friedens – das Wesentliche für mich, wenn ich an ein würdevolles Alter denke.

Wir sind vergänglich und unser Leben ist endlich – das lässt sich nicht philosophisch wegdiskutieren. Doch wir können der Angst in Bezug auf das Alter das Bedrohliche nehmen. Es liegt an uns, das Potential jeder Lebensphase zu nutzen und zu entfalten. Was mein Altern angeht, so halte ich es mit Cicero: „Vor nichts muss sich das Alter mehr hüten, als sich der Lässigkeit und Untätigkeit hinzugeben.“ In diesem Sinne: Entdecken wir die Möglichkeiten und zwar jene, die für uns selbst wesentlich sind, solange wir es noch können.

***

Angelika WendeAngelika Wende, geb. 1959 in Kaiserslautern, lebt und arbeitet in Wiesbaden. Sie ist Autorin, Dozentin und psychologische Beraterin und gibt Seminare zum Thema „Selbstwert und Selbstverwirklichung“. In ihrem Blog „Zwischen Innen und Außen“ schreibt sie über die menschliche Psyche.

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Diskussion

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Ein Kommentar zu „Gefährliche Zeiten: Vom Alt werden“.

  1. „Vor nichts muss sich das Alter mehr hüten, als sich der Lässigkeit und Untätigkeit hinzugeben.“
    Dieser Cicero ist gar nicht so dumm gewesen, das stelle ich immer wieder fest.
    Ich habe keine Angst vor dem Altern und doch habe ich Angst. Weil es eine neue Erfahrung sein wird.
    LG
    Sabiene