Claudia am 13. Mai 2011 —

Angst vor Kontrollverlust – zum Tod von Gunther Sachs

Freitod - ein mutiger Akt?Ein mutiger Schritt, alle Achtung! So kommentierten etliche Freunde und Bekannte den Freitod von Gunther Sachs, der sich letzte Woche aufgrund erster Anzeichen der Alzheimer-Krankheit erschossen hat. In seinem Abschiedsbrief schrieb er:

„Der Verlust der geistigen Kontrolle über mein Leben wäre ein würdeloser Zustand, dem ich mich entschlossen habe, entschieden entgegenzutreten.“

Gunther hat sich die Diagnose offenbar selber gestellt und ist nicht mal zum Arzt gegangen, um die „Alzheimer-These“ zu verifizieren. Er bemerkte wachsende Vergesslichkeit und eine Verschlechterung seines Sprachschatzes – ja du meine Güte, da müsste ich mich auch erschießen, schon mit 56! Denn es passiert mir zunehmend häufiger, dass ich einen Begriff, irgend ein wohl bekanntes Wort nicht gleich erinnere – und ja, das verzögert sogar manchmal die Konversation um Bruchteile von Sekunden.

Früher fand man es normal, mit zunehmendem Alter vergesslich zu werden. Heute kann man sich das offenbar nicht mehr leisten: jeglicher Abbau der fürs jugendliche und mittlere Alter typischen Fähigkeiten löst Horrorvorstellungen und Ängste aus. Und bei Männern, die sich von ihrem Rollenverständnis her als Problemlöser sehen, erscheint die Möglichkeit, sich das Leben zu nehmen, als „letzte Lösung“.

Ist das wirklich mutig?
Ok, den Akt durchzuziehen, das mag mutig sein – für ein paar Sekunden. Sehr viel mutiger aber wäre es, sich dem Unbekannten und Gefürchteten lebendig zu stellen. Bereit sein, zu nehmen, was kommt – und auch Hilfe annehmen und Kontrolle abgeben lernen.

Zudem: Hat jemand (wie Gunther Sachs) genug Geld, ist das im Alter sicher sehr viel leichter als für all die nur noch grundversorgten Rentner, zu denen viele aus meiner Generation gehören werden. Und TROTZDEM hat er sich so gefürchtet, dass er lieber abgetreten ist.

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Foto: Siegfried Fries / pixelio.de

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Diskussion

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31 Kommentare zu „Angst vor Kontrollverlust – zum Tod von Gunther Sachs“.

  1. Deine Gedanken Claudia sind mir auch durch den Kopf gegangen, nachdem ich einige Hintergründe erfahren hatte.
    Kann ich nicht beantworten, ob das mutig war, aber es war selbstbestimmt und ich glaube das ist für mich am wichtigsten.
    Vielleicht erfordert beides Mut- zu bleiben und zu gehen!?
    Nachdenkliche Grüße

  2. Ich dachte auch im ersten Moment, es sei „mutig“, doch bewerte ich das doch aus meiner und einer ganz anderen Perspektive. Spiegelneuronen lassen mich sagen: Nee, das könnt ich nicht.

    Aber ich glaube, könnte man den Handelnden noch fragen, er käme nie auf die Idee, diese Tat mit „Mut“ zu bezeichnen. Vielleicht war es eher Scham, die Würde, von der er sein eigens Bild und Verständnis hatte, zu verlieren. Vielleicht war es Angst, keine Kontrolle mehr über sein Tun und sein Leben zu haben. Vielleicht war es…..

    Auf jeden Fall gehört in schweren Schicksalsmomenten immer viel Mut dazu, weiterzuleben.
    Wenn die Angst vor dem Leben größer ist, als die vor dem Tod – dann hat man den Mut zum weiterleben verloren.

    Doch für diese Angst oder diesen Mut gibt es keine internationale DIN-Norm, auf dessen Skala wir ablesen und bewerten können, das war halbrichtig oder dreiviertel falsch. Auch für Scham, Würde, Rücksicht, Liebe und ertragbares Leid – alles nichtnormierter Raum, mit der individuellen Freiheit zur Entscheidung.

  3. Ich halte es für sehr schwer und geradezu vermessen, hier zu werten. Zumal wir auch wirklich so gut wie nichts wissen. Rumstochern im Nebel möchte ich nicht.

    Der Verlust von Sprachfertigkeit wird oft als sehr quälend empfunden. @Claudia, ich bin in Deinem Alter und mich fuchst es manchmal, daß „mein Latein“ scheinbar nicht mehr so überzeugend wie einst daherkommt. Mein Umgang mit Sprache war m.E. schon mal besser. So fühlt es sich an – ich kann mich da auch täuschen! Vielleicht verwirrt mich mein Anspruch! Aber bestimmte Worte fallen mir nicht nach einer halben Sekunde, sondern nach unbestimmter Zeit wieder ein oder gar nicht. Ich hasse es auch, mich mit Substituten und schwächeren Argumentfolgen ausdrücken zu müssen. Das sind Kleinigkeiten, zugegebenermassen.

    Wie sich das aber für mich anfühlen würde, wenn ich erheblich mehr an Fertigkeiten verlieren würde, weiß ich nicht.
    Aus meiner Vergangenheit habe ich, gerade passend zur Diskussion, die Momentaufnahme eines alten Gesichts in Erinnerung, eines Gesichts, das von Schreck und purer Angst gekennzeichnet ist, weil der Mensch dahinter zum Reden angesetzt hatte und plötzlich siedendheiß bemerkte, daß er sich nicht adäquat ausdrücken kann.
    Mich würde hier auch die Meinung von Oberguru @Susanne, falls sie das liest, interessieren. Bei ihr ist Sprache ja ungemein wichtig, sodaß ein Schwächerwerden in ihrer Lieblingsdiziplin sie ganz sicher arg treffen würde.

  4. @Gerhard
    Ein Oberguru bin ich bestimmt nicht und will ich auf keinen Fall sein und hoffe sehr, daß Du den Begriff viel scherzhafter gebraucht hast, als er bei mir angekommen ist. *#@%$!grummel!
    Verluste von Fähigkeiten wg. Alterns halte ich für alltäglich. Ich kann heute vieles nicht mehr oder nicht mehr so gut oder so leicht wie vor x Jahren. Und habe natürlich Angst davor, irgendwann nicht mehr ausreichend laufen, essen, stuhlgehen, sprechen, schreiben, erinnern und denken zu können und die üblichen Spuren des Alterns an mir zu entdecken, die meine Eitelkeit ankratzen würden.
    Dagegen hilft wohl nur, mich weiterhin halbwegs zu mögen und Leute um mich zu haben, die das ebenfalls hinkriegen – so oft und so spürbar, wie nur irgend möglich. Und nicht zu glauben, mein Dasein wäre das Resultat einer unentwegten Begutachtung, eines lebenslangen Audit nach Maßgabe irgend eines externen Qualitätskriteriums und vor den Augen einer unheimlichen Jury fern von mir. Ob ich das schaffe, steht natürlich in den Sternen. Ich denke, ich bin anpassungsfähig und frohen Mutes, weil ich aus vergangenen Ereignissen Zuversicht schöpfe. Aber vor einem düsteren Moment ist niemand gefeit, in welchem die Schatten riesengroß und die Lücken zwischen ihnen verschwindend klein vorkommen.
    Zu Menschen aber wie dem Herrn Sachs, die nach meinem Wissensstand über ihre Probleme/Krankheiten/Lebensumstände nur auf der Überholspur oder gar nicht leben wollen, kann ich lediglich sagen, daß ich sie von Herzen verachte und nicht meiner weiteren Aufmerksamkeit für Wert halte.

  5. Ich glaube nicht, daß wir das Recht haben darüber zu richten und ich finde auch, daß diese Entscheidung nicht in die Yellow Press und auch nicht in die Blogs gehört.

    Diesen letzten Schritt sollte man privat gehen können, die Nachwelt hat das zu respektieren, aber nicht zu spekulieren

  6. @Susanne, „Oberguru“ war ein harmloser Spaß, aber „Verachtung“ für einen Lebensstil, das geht ganz schön weit. Woher kommt da Deine Wut?
    Das rein rhetorisch, eine Antwort erwarte ich nicht unbedingt.
    Du kennst ja schon meine notorischen (und sinnentlehrten) Hinterfragungen.

    Im übrigen danke ich Dir, daß Du auch Deinen Teil zum Thema „Verluste“ beigetragen hast. @Claudia scheint ja jemand zu sein, der Verluste schnell kleinredet und „wegwischt“.

    Den Audit, liebe Susanne, den erledigen wir doch auch selbst. Wir haben Ansprüche und wollen nicht drunter! Das Selbstbild völlig von den Leistungen zu entkoppeln, das schaffen Gurus vielleicht…hier wäre der Begriff endlich sauber angebracht!

    Gruß!

  7. @Gerhard
    Selbstbild und Leistungen sind gar nicht voneinander zu entkoppeln. Aber ich reklamiere für mich eine Hyperstabiltät: ich sehe mich als ein System, das seine Bestandsparameter selbst anhand einer sich ändernden Umgebung oder aufgrund interner Prozesse anpassen kann.

    Zur Anpassungsfähigkeit fällt mir gerade dieses Lied von Herrn Randy Newman ein. Es heißt „It’s Money That I Love“ und geht etwa so:

    I don’t love the mountains And I don’t love the sea And I don’t love Jesus He never done a thing for me I ain’t pretty like my sister Or smart like my dad Or good like my mama It’s Money That I Love It’s Money That I Love They say that’s money Can’t buy love in this world But it’ll get you a half-pound of cocaine And a sixteen-year old girl And a great big long limousine On a hot September night Now that may not be love But it is all right One, two It’s Money That I Love Wanna kiss you Three, four It’s Money That I Love Used to worry about the poor But I don’t worry anymore Used to worry about the black man Now I don’t worry about the black man Used to worry about the starving children of India You know what I say about the starving children of India ? I say, „Oh mama“ It’s Money That I Love It’s Money That I Love It’s Money That I Love

    Das mag nicht sehr nett klingen (tun dessen Lieder ja selten), trifft aber einen Kern auch der hier behandelten Frage.

  8. Hier ein Link zu diesem Lied:

    It’s Money That I Love – Randy Newman

  9. Ich bin für Selbstbestimmung. Auf der anderen Seite finde ich, daß die Selbsttötung von Gunter Sachs und die Art der Berichterstattung verheerende Signale setzt. Wenn schon jemand, der finanziell alle Möglichkeiten hat, den Selbstmord vorzieht, was bedeutet das dann von den Normalsterblichen. Besonders erschreckt hat mich, daß – seit ich einen Blogbeitrag über den Zusammenhang von Selbst.mord und Demenz geschrieben habe, die Anfragen von Suchmaschinen zu diesen Begriffen sehr hoch sind.
    Die Frage, die öffentlich breit diskutiert werden müßte wäre doch, welche Rahmenbedingungen erforderlich wären für dementiell veränderte Menschen und ihre Angehörigen, damit ein Leben mit dieser Krankheit ein würdiges Leben ist.

  10. „Wenn schon jemand, der finanziell alle Möglichkeiten hat, den Selbstmord vorzieht, was bedeutet das dann von den Normalsterblichen“ zu fragen, halte ich für den vollkommen falschen Ansatz.

    Umgekehrt wird hier ein Schuh draus: was für ein Leben muß ein Mensch geführt haben, wenn die Aussicht auf eine Erkrankung ihn zum Selbstmord verleitet, welche von zehntausenden anderer Menschen und ihren Familien ertragen wird, die zumeist sicherlich deutlich weniger privilegiert sind als er?

    Denn andernfalls müßten wir den Schluß ziehen, das auch eine finanziell ausgesprochen großzügige Ausstattung einer Familie nicht ausreichen wird, eine Alzheimer-Erkrankung erträglich zu machen.

  11. @Connie:

    da es der ausdrückliche Wunsch von Gunther Sachs war, dass sein Abschiedsbrief veröffentlicht werden sollte, hatte er wohl persönlich nichts dagegen, dass alle Welt posthum darüber redet. Ganz im Gegenteil!

  12. Den alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.
    (Nietzsche)

    Sachs war ein Hedonist und ein Erotomane, zudem in der vollkommen ungewohnten Siutuation einer (altersbedingten) Niederlage (Libidoverlust etc.), welcher jeder unausweichlich und ohnmächtig gegenüber steht.

    Eros und Tod stehen immer nahe beeinander.
    Nicht umsonst nennen die Franzosen einen Orgasmus „Le petit mort“.

    LG Gerd

  13. Ergänzenderweise die Anmerkung, dass vielleicht auch Liebe und Rücksichtnahme eines der Motive für eine solche Tat sein können. Die Kenntnis davon, wie gross die Belastung der pflegenden Person(en) sich gestaltet, hat meines Erachtens ein nicht zu unterschätzendes Gewicht. Dafür gibt es auch prominente Beispiel, etwa bei der Familie Walter Jens.
    Mylo mit lieben Grüssen

  14. dass geld eine überlegung sein könnte, nach der ich mein leben friste oder nicht, ist doch vollkommen irrelevant.
    der entschluss, leben zu beenden, hat doch tiefere gründe jedes einzelnen, die wir nicht einmal im ansatz erahnen können. tolereranz und wertungsfreiheit – er hat so entschieden. das ist sein gutes recht.
    ich kenne sein leben nicht und kann nicht darüber zu spekulieren,
    ob er daran hätte festhalten sollen.
    über das leben anderer zu richten und am liebsten im nachhinein, das ist unter aller würde.
    leben und leben lassen
    sterben und sterben lassen
    lassen

    rosadora

  15. Liebe Claudia,
    auch wenn er wollte dass sein Brief veröffentlicht wird, muss man aber doch nicht „draufspringen“ , oder?

    Es ist doch unsere Entscheidung als freier Mensch, ob wir darüber spekulieren oder nicht?

  16. Natürlich ist die Person des Herrn Sachs nur Anlaß zu einer Diskussion. Über ihn ‚richten‘ mag, wer das kann. Dennoch ist das Problem ein Allgemeines, ein allen Gemeines: wo die Grenze des ‚Nö, so dann doch nicht mehr‘ für das eigene Leben ziehen?

    Daß jeder Mensch hier entscheidet, wie es ihre Gefühle, Interessen, Umstände und Rücksichten erlauben, ist banal. Für uns Zuschauer stellt sich dennoch die peinlich intime Frage: Und du? Wie würdest du dich entscheiden? Welchen Mut traust du dir zu?

    Wenn ich über das Leben anderer Menschen oder über ihr Dasein richte, dann wegen mir und wegen nichts sonst. Wir haben das Denken als Fähigkeit mit auf den Weg gegeben bekommen, damit wir Sinn und Grund, Recht und Lust in unserem Dasein finden können. Kein anderer Zweck scheint mir (neben dem anderen, dem Sammeln und Herstellen von Nahrung und Nachwuchs) einsichtiger. Deswegen richte ich über alles um mich her und lasse mir das auch nicht nehmen. Allem gegenüber gleichgültig zu sein wäre, wie eine Amöbe zu sein. Semipermeabel, bloßes Jetzt. Aber sagen zu können: Welch ein Mist! Das macht mich zur Person, zumindest meinem Empfinden nach. Gerade im Ablehnen, Verachten, Verurteilen liegt viel Freiheit. Auch falsche, klar.

    Doch ist nicht die Befriedigung, die wir daraus ziehen können, uns zu unterscheiden, verschieden zu sein, ganzn und gar anders, eine, die nichts anderes unter der Sonne uns geben kann?

    Okay, ein Sechser im Lotto wäre sicherlich auch nicht übel, aber den hat noch niemand gehabt, den ich kenne ;-)

  17. Danke Susanne! So gut und rund hätte ich das nicht ausdrüclen können! :-)

    Und Connie: ja, es war und ist meine freie Entscheidung, den Abgang von Gunther Sachs hier zu thematisieren – eben weil ich finde, dass solche Gedanken (wann ist es angemessen etc.) durchaus zur „Kunst des Alterns“ gehören. Und wenn ein Prominenter nun schon mal seine Gründe öffentlich macht (die stehen ja in dem allüberall veröffentlichten Brief), dann hat er das getan, um sich öfffentlich zu rechtfertigen – und stellt damit seine Beweggründe naturgemäß „zur Debatte“.

    Wer solche Debatten nicht mag, MUSS sich ja nicht beteiligen. (Womit ich um Himmels Willen jetzt NICHT sagen will, dass ich Eure Statements hier nicht gerne lese und froh bin, dass alle Meinungen auch GESAGT werden!).

  18. „Deswegen richte ich über alles um mich her und lasse mir das auch nicht nehmen.“ Um zu richten, muß man eigentlich den anderen verstehen können. Zur Gänze.
    Es gibt ein schönes Lied „Walk a mile in my shoes“ (das ich zuletzt von Henrik Schwarz so schön editiert hörte), das ich so interpretiere: Du kannst mich als Person garnicht verstehen, wenn Du nicht in meine Haut schlüpfst. Dann wirst Du sehen.
    Auch ich richte gerne, erfahre aber immer wieder, daß ich manchmal viel zu wenig weiß, um das eigentlich rechtschaffen tun zu können. Je mehr man erfährt und oft ist das pure Gnade, umso mehr kann sich ein Urteil drehen.
    Dies hier war nicht so gut formuliert wie Susannes Statement, aber dennoch werfe ich es in die Runde ;-)

  19. Nicht „Gut“ formuliert und ich verstehe es, Gerhard, ist mir lieber, als gut formuliert und ich verstehe nur Bahnhof.
    „Verachten“ ist mein Reizwort, und ich glaube, es entspringt mehr der Emotion, als dem Intellekt. Und ich glaube auch, das diese Emotion kaum kontrollierbar ist. Das mag viel Freiheit hervorrufen. aber doch nur auf der archaischen Ebene, deren Verlassen wir Menschen als die „zvilisatorsiche Leistung“ doch bemühen.

    „Verachtung“ repräsentiert in mir das Bild, in welchem Gehsteig schrubbende Menschen mit an den Ärmel angenähten gelben Sternen von vorbeigehenden Passanten bespuckt werden. Das ist Verachtung aufgrund der „Herkunft“, für die kein Mensch etwass kann und Einfluss hat, genauso wenig wie Herr Sachs, der keinen Einfluss darauf hatte, das er in eine „Unternehmerfamlie“ geboren wurde. Da bin ich, und das gebe ich zu, ein höchst sensibler und machmal schwieriger Gespächspartner.

    Übrigens @Gerhard, als einen „richtenden“ kenne ich dich aus diesen Diskussionen hier nicht. Einen wertenden, urteilenden oder auch beurteilenden, ja. Aber richten bedeutet doch auch, das ist mein endgültiges und abschließendes Urteil. Punkt. Damit beraubt man sich doch selber der Möglichkeit jeder Erweiterung, die sich durch neue Sichten ergeben könnte.

    @Claudia, das kann man so sehen, das er sich öffentlich rechtfertigen wollte und damit seine Beweggründe zur Debatte stellen wollte. Auch in meinem Leben gibt es manchmal Angelegenheiten, mit denen ich nicht so gut parat komme. Manchmal erzähle ich darüber, aber nicht, um mich zu rechtfertigen, sondern einfach um zu sagen, dass auch in mir wie ich glaube auch in vielen anderen, Tabuthemen wühlen. So lange diese gesellschaftlich verschwiegen werden, glaubt jeder, nur er leide an diesem Übel. Je mehr sich aber in der Öffentlichkeit dazu bekannt wird, je besser kann der einzelne Betroffene seine tatsächliche Situation einschätzen. Insofern betrachte ich es nicht als Rechtfertigung.

    @Mylo, das sehe ich auch wie du, das es sehr viele Perspektiven gibt, und besonders auch, die in deine geschilderte Richtung gehen. In „Tage oder Stunden“ wird der genau der von dir beschriebene Aspekt in einem außerordentlichen französischen Spielfilm aufgezeigt.

  20. @Gerhard: Du schreibst: „Um zu richten, muß man eigentlich den anderen verstehen können. Zur Gänze.“ Das angewandt, dürfte kein Mensch über niemanden richten. Was weiß ich von Herrn Mengele, Herrn Fermi, Herrn Hussein, Herrn Bush? Was von Frau Borden, Frau Bandaraneike, Frau Ghandi, Frau Thatcher, Frau Merkel? Und was von den mir Nächsten? Ob ich nun 10, 1.000 oder 1.000.000 Dinge über die Unendlichkeit weiß, macht mich kaum klüger, auf jeden Fall aber meine Urteile nicht end-gültiger, nicht hin-reichender, nicht tief-gründiger.

    Urteilen ist immer eines unter Vorbehalt. Oder wir könnten keinen einzigen Schritt in die Welt, kein einziges Gefühl für einen anderen Menschen, kein Vertrauen und keine Liebe empfinden, sondern wären vollständig determinierte Maschinen. Und das will ich auf keinen Fall sein. Natürlich urteile ich anhand meines begrenzten Wissens über andere Menschen, und ich verurteile sie auch auf der Grundlage meines endlichen Verständnisses. Und wen ich verurteile und wessen Motive mir das nahe legen, den verachte ich dann auch. Was niemals heißt, daß ich mich damit nicht gewaltig irren könnte und vorschnell fehlerhaft handelte. Doch ich möchte nicht nur kriechen aus bloßer Angst, beim Gehen zu stolpern. Nicht nur auf der Stelle treten aus schierer Angst, etwas zu zertreten.

    Ich akzeptiere keineswegs die Bedeutung, die Menachem mit seiner Formulierung „Aber richten bedeutet doch auch, das ist mein endgültiges und abschließendes Urteil. Punkt“ dem Wort ‚richten‘ unterschiebt. Und frage mich, woher dieser Wunsch nach Endgültigkeit und Abschluß kommt und wie ein Mensch, eine Gemeinschaft, eine Institution ihm jemals entsprechen soll. Das ist mir viel unheimlicher als jemanden zu verachten, von dem ich nicht viel weiß und der mich nicht ausreichend interessiert, um mehr von ihm wissen zu wollen.

    Mir ist schon bewußt, daß ein Wort wie ‚Verachtung‘ sehr reizt. Daß es das gleich bis hin zur Nazi-Keule tut, verwirrt mich ein wenig. Und, @Menachem, ich halte die Frage für bedenkenswert, ob diejenigen, die andere, ausgegrenzte und dafür offiziell freigegebene Menschen bespucken (und mehr), diese Menschen tatsächlich verachten oder nicht doch ganz andere Gefühle in ihrem Handeln verbergen oder vermeiden.

  21. @Susanne, geht doch, verstehe jedes Wort, wobei unsere unterschiedliche Meinung vielleicht gar nicht in der Sache selbst liegt, sondern sich mehr aus Beschränktheit des geschriebenen Wortes ergibt.

    Ich habe nichts von „Nazi`s“ geschrieben. Ich habe nur eine vielen Menschen bekannte Handlung nochmals aufgeschrieben, die mir zur Verachtung einfällt. Ich gehöre zur ersten Nachkriegsgeneration, und gerade das Schweigen in unserer Familie, wie auch ein späteres Schönreden, genau das, dass hat uns die bedrückende Last des Erlebten spüren lassen. Ich habe mich bis vor 4-5 Jahren nie mit diesen Dingen beschäftigt, aber scheinbar kann man ihnen auch nicht ganz entfliehen, so sehr ich es auch vielleicht mochte. Aber so wie ich, der der eintätowierten Nummer auf dem Arm meines Vaters nachspürt, fragen sich auch viele andere meiner Generation, ist es vielleicht mein Vater gewesen, der diese Nummer eintätowiert hat?
    Das ist nach meinem Emfpinden ein ganz normaler Vorgang zwischen aufeinanderfolgenden Generationen, besonders in dieser Tragweite, wo die eigenen Eltern, wurden sie nicht ermordert, als körperliche oder geistige Krüppel dieser Zeit entsteigen. Worin mich verwirrt, das eine solche Selbstverstädnlichkeit überhaupt zu verwirren vermag.
    Es ist für mich der große und gute Leitstern meines Leben, das ich in einem friedlichen Deutschland groß geworden bin. So hab ich es auch vor kurzem in meinem blog geschrieben. Und wenn ich mir über den Frieden Gedanken mache, dann schaue ich nach hinten und ich schaue auch nach vorne, wo der Fels des Friedens, Europa, wankt.

    Ich trage kein Groll in mir, und ich richte auch nicht, und auch nicht über die Menschen und auch nicht über diese Zeit und auch nicht über Herrn Sachs. Sollte ich es dennoch tun, und mein Wort und mein Geist nicht in Einklang sein, so sag es mir. Und weil ich keine Endgültigkeit in mir möchte, deswegen möchte ich auch nicht richten.

    Und deshalb gehe ich auch mit dir, was du zum „urteilen unter Vorbehalt“ schreibst,1:1 da core.

    Sollten aber hinter dem Bespucken von Menschen ganz andere Gefühle als „Verachtung“ liegen, dann würde ich gerne meine Horizont dazu erweitern. Ob ich dann aber wirklich eines Tages in der Lage sein werde, auf andere Menschen zu spucken und zu denken, na ja, es sind ja andere Gefühle als Verachtung die sich jetzt hier ausdrücken, weiß ich nicht.

    Und so glaube ich, @Susanne, das wir in Werten und Inhalten nicht weit auseinander sind, nur stecken diese Dinge in den für den anderen jeweils falschen Worthülsen.

  22. @Menachem

    Zu Deinem Beispiel (Menschen zu bespucken, die stigmatisiert werden) noch zwei Punkte, weil ich den Eindruck habe, daß Du meine zugegeben recht vagen Worte dazu ein wenig mißverstanden hast.

    Einmal denke ich, daß jemand, der andere Menschen erniedrigt, dieses immer auch deswegen tut (oder tun muß), um sich selbst zu erhöhen. So wie Ausgrenzung immer auch der Eingrenzung dient, Feindschaft der Freundschaft und Fremdheit dem sich heimelig Fühlen, so ziehen wir aus Verachtung für andere stets auch Achtung für uns selbst.
    Es ist vielleicht nicht immer angenehm zu ahnen, daß wir so funktionieren. Aber ich denke, Menschen tun das, haben es immer getan und werden es wohl auch immer tun.

    Zum anderen bekämpfen (und verachten) Menschen in anderen oft am heftigsten das, was sie in sich selbst oder für sich selbst befürchten. Das muß nicht immer gleich zu Progromen führen. Die Zuschreibung ‚asozialer‘ Werte zu Menschen, die verarmt sind, ist ein gutes Beispiel. Sie macht sich leicht an einfachen Dingen (Dreck, Unordnung, Verwahrlosung) fest, weil genau diese dem (noch) nicht Verarmten unheimlich und beängstigend erscheinen. Und wird beim Anderen als Verfehlung bewertet, an die sich selbst beruhigend und ent-schuldigend Schuld geheftet werden kann.

  23. @Susanne, wenn die Nazi-Keule zu diesem Dialog führt, dann hole ich sie gerne jeden Tag ans Licht. Ich kenne die von dir aufgeführte Argumentation der Erhöhung und Erniedrigung. Sie trifft mich in Mark und Bein und ich könnte oftmals laut losheulen, weil hinter allen Totschlagargumenten oft, selbst das kleinste Bemühen eines verstehens, fehlt.

    Die, die sich erhöhen mussten und erhöht haben, sind genau so tragische Figuren, wie die, die nicht schnell genug fortgelaufen sind. Im „Das weisse Band“ wird im versucht zu zeigen, dass wir alle Kinder unserer Zeit sind.

    Meine Zeit war die, in der uns alle Möglichkeiten offen standen. Bildung, Wohlstand, Familie – nichts war, im Gegensatz zu der heute jungen Generation, wirklich schwierig zu erreichen. Aber:

    Mir fehlte Freiheit. Als „brennende Kerze“ der Erinnerung wurde ich überbehütet, wohlanständig übererzogen, schmiegsam in hierarchische Ebenen eingepasst. Niemals würde ich aber meinen mich liebenden Eltern deshalb irgendeinen Vorwurf machen.

    Doch diese mir von Kindesbeinen an fehlende Freiheit drückt sich heute immer mehr und unbändiger aus. Und sie gipfelt in der Freiheit meines Willens, in der ich die Freiräume anderer Menschen nicht antasten möchte.

    Doch ich halte mich für derart verantwortungsbeusst und umsichtig, dass, wenn mich heute entscheide, mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen, auch dies alles bedacht habe, wenn nicht sogar, genau dies alles bedacht habe.

    Und deswegen würdest du mich verachten, @Susanne, weil ich meine Freiheit so gestalte, wie ich sie gesalte? Das glaube ich nicht.

  24. Als Nachtrag meine ich, wenn ich das Szenario der alten Sagen richtig interpretiere, beschäftigen sich die Menschen schon lange mit dieser hier diskutierten Frage.

    Auch die als Helden dargestellten, selbst, wenn wir sie in ihrem Tun nicht als Helden ansehen, haben ihre Verwundbarkeit, die sie „tödlich“ treffen kann. Bei Achilles war es die Verse, bei Siegfried eine Lindenblatt große Stelle auf dem Rücken. Man möchte meinen, es sind gar die kleinen und vernachlässigten Dinge, die uns zu Fall bringen.

    Jeder ist woanders verwundbar. Wir selbst haben weder die Möglichkeit, diese Stelle immer während geheim zu halten, noch sie zu schützen noch können wir sie uns aussuchen.

  25. Ich kann über den Dialog (wesentlich zwischen Susanne und Menachem) nur etwas ungefähr schreiben, möchte es dennoch tun.
    Zunächst fiel mir auf, daß@Suanne gleich im ersten Satz von mir eine Ungenauigket ausmachte. Das tut mir nichts ausser daß es mich etwas betrübt, daß ich zu ungenau formulierte.
    „Zur Gänze“ geht garnicht, das ist doch klar. Aber eine gewisse Annäherung an die Gänze, die kann man doch ab und an anstreben, da eben, wo es einem wichtig ist.
    Auch Menachem fiel mein Wort „richten“ auf. Es ist in der Tat so, daß ich Urteile über manche Mitmenschen fälle, aber immer im Hinterkopf habe, daß sich das Urteil auch noch revidieren kann, in mehr oder minder großer Ausprägung.

    Das große Wort hier in der Runde ist „Verachtung“.

    Ich würde mir, „so meine ich zumindest“, Verachtung für bestimmte Menschen abschreiben. Wut über Geschehenes spüre ich dennoch, aber immer wieder frage ich mich, was das nützt ausser mir Zeit und Energie abzuziehen.

    In der Diskussion nehme ich auch die Verwundbarkeit von „Menachem“ wahr. Manche Menschen können sich schwer von leidvollen Gedanken abwenden, sind ihnen sozusagen ausgeliefert. Auch das bindet Energie und auf m.E. nicht sehr nutzvolle Weise.
    Womit ich nur sagen wollte, daß ich die Schwingungen wahrnahm..und sonst nichts weiter.

    Ich fand und finde die Diskussion erfischend. Auf alles oder das meiste, was zuletzt anklang, kann und konnte ich leider nicht eingehen.

  26. Ich denke wie Gerhard ebenfalls, daß sich die eigentliche Kontroverse um das Wort ‚Verachtung‘ rankt. Und sehe da zwei verschiedene Richtungen.
    Die eine beharrt darauf, daß die Vorläufigkeit jedes Urteils derart schroffe Worte nicht erlaube.
    Die andere darauf, daß das dennoch möglich sei.

    Für Letzteres (ich darf verachten, was ich als verachtenswert erachte) spricht in meinen Augen vieles. Vor allem die simple Tatsache, daß Verachten ein Gefühl und ein Denken dar stell, das Menschen hegen, ob sie es nun zugeben oder nicht. Das Bewerten ist Teil unseres psychischen Apparates, und der Verstand kann daran nur ändern, daß er die Bedingungen des Bewertens offen zu legen versucht. Zu denen gehört, daß Bewerten, wie alle menschlichen Unterfangen, auf sehr schwankendem Boden steht.

    Für Ersteres (lieber nicht vorschnell verachten, wer weiß, ob’s richtig ist) spricht in meinen Augen gar nichts bis wenig. Kein Wunder, denn ich bin da ja Partei. ;-)
    Ich denke, daß Menschen, die sich genieren, ihr Verachten offen auszusprechen und sogar leugnen, daß sie es täten (während ich gemeinerweise ihnen dennoch unterschiebe, es zu tun, aber eben nur heimlich), leicht Gefahr laufen, für die scheinbare und oft nur eingebildete Sorgfalt ihres Denkens und Empfindens eine sehr wirkliche Belanglosigkeit ihres Handelns hinzunehmen.
    Was ich durchaus verstehen kann, denn es wirkt niederdrückend, seiner Verachtung keine Taten folgen lassen zu können, gerade wenn diese auf als sehr schmerzhaft empfundenen Gründen beruht.

    Im auslösenden Fall des Mannes, der sich lieber umbrachte, als seinen Angehörigen und sich selbst seine Krankheit zuzumuten, beruht meine Verachtung auf der Bewertung, die dieser Mensch vermutlich angestellt hat und welche die Konsequenzen der fraglichen Krankheit mit dem Status der Gesundheit verglich.
    Bei Herrn Sachs habe ich den Eindruck, daß der Mann es nicht aushalten wollte, nicht mehr der Erfolgreiche und Bewunderte zu sein, sondern womöglich der Bemitleidete und Gepflegte. Und das, nichts anderes, verachte ich. Wie ich jeden Zweiten eines Rennens verachten würde, der sich aufgrund seiner Platzierung umbringt.

    Meine Verachtung richtet sich hier nicht auf das Gefühl des Versagens und der Zurücksetzung, die ich wie jeder andere Mensch auch kenne. Sondern auf die intellektuelle und moralische Minderleistung, die in meinen Augen darin liegt, das Rennen über die Rennenden zu stellen, den Gewinn über den Gewinner und den Verlust über die Verlierer.

    Ob ich damit nun dem Herrn Sachs gerecht werde, weiß ich nicht. Es ist mir allerdings auch gleichgültig, weil ich Menschen aus seinen Kreisen und mit seinen Ambitionen und seiner Vita nichts Interessantes abgewinnen kann.
    Spannender sind für mich Menschen, die nicht nur ganz oben auf Pyramiden leben können, sondern auch auf deren Stufen, was die Spitze zwar immer mit einschließt, sie aber nicht zum alleinigen Heil verklärt.

  27. @Susanne, ich halte es für zweckmässig und womöglich hilfreich, zu schauen, wo ich verachte und was das über mich selbst aussagen mag.
    Wenn Du schreibst: „Bei Herrn Sachs habe ich den Eindruck, daß der Mann es nicht aushalten wollte, nicht mehr der Erfolgreiche und Bewunderte zu sein, sondern womöglich der Bemitleidete und Gepflegte. Und das, nichts anderes, verachte ich.“, dann vermute ich, zu recht oder zu unrecht, daß diese starke Emotion sehr mit Dir selbst zu tun hat. Wo kannst Du es nicht aushalten, plötzlich „kleiner“ zu sein? Wenn Du als Großmeisterin in Sprache (und womöglich auch anderen Feldern) absinken würdest, deutlich verlieren würdest, wie wäre das? Verachtest Du, daß Du einen Wehrimpuls spürst, der da einsetzen würde? Definerst Du Dein Selbst unbewusst über Leistungen und hasst Du vielleicht, daß Du leisten musst? Leisten mußt, um Dich gut zu fühlen? Haßt Du, das Leben nur möglich ist über Leistung? Daß man was darstellen muß und vorzeigen muß?
    Da Du Dir sicher kein Schluderdeutsch erlaubst (und auch kein Schluderenglisch und Schluderitalienisch) und m.E. auch ungenügendes Denken und Formulieren als nicht gerade „schön“ erachtest (siehe Deine Rezensionen von Übersetzungen), vermute ich wie gesagt eine strenge, unerbittliche Richterin in Dir selber.
    Allerdings weiß ich das alles nicht, sondern das sind nur Vorstösse, die ich jetzt mal so einfach gewagt habe.

    Für mich selbst gilt, daß ich verachte, wenn sich jemand nicht bewegt. Er also nichts aus Erfahrenem gelernt hat bzw. das Gelernte und Erfahrene nicht ausreicht, um Veränderung im Denken und Verhalten zu erzeugen. Ich bin da irgendwie unerbittlich. Ich mag nicht, wenn Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung stehen bleiben. Sie sich einfach in 100-fachen Wiederholungen gefallen, in Wiederholungen speziell, die Ungutes selbst in sich tragen.
    Ich mag es nicht, wenn Leute nichts merken und nicht verstehen, wo Verstehen leicht möglich wäre.
    Hier liegt meine persönliche Unduldsamkeit und auch meine „Verachtung“.
    Verachtung ist aber gleichsam ein zu hartes Wort, denn das ist das Wort eines unerbittlichen Richters…oder überstrengen Vaters. Wir Menschen sind nunmal nicht ein Holz, das sich beliebig schnitzen lässt. Und aus gutem Grund gibt es eine Wehr in uns gegen Veränderung. Ein gewisses Schwimmen und Wassern in gewohnten Kreisen ist letztlich unumgänglich.
    Also vermute ich einen überstrengen Vater in mir, der Forderungen an mich richtet und dem ich unbedingt genügen muß – und das mag dann auch zurecht Verachtung erzeugen – gegen diese Kraft und Macht in mir.

  28. Allen sei hier wieder mal herzlich gedankt für die interessanten, engagierten und sorgfältig formulierten Beiträge, sowie den zwar in der Sache durchaus pointierten, aber persönlich respektvollen Umgang miteinander. SO kommen Gespräche zustande, die das Lesen lohnen!

    Über die an dieser Stelle weitgehend geklärten Diskussionsgegenstände hinaus nehme ich als weiter führenden Schreibimpuls das Folgende aus Susannes letztem Posting mit:

    „Ich denke, daß Menschen, die sich genieren, ihr Verachten offen auszusprechen und sogar leugnen, daß sie es täten (während ich gemeinerweise ihnen dennoch unterschiebe, es zu tun, aber eben nur heimlich), leicht Gefahr laufen, für die scheinbare und oft nur eingebildete Sorgfalt ihres Denkens und Empfindens eine sehr wirkliche Belanglosigkeit ihres Handelns hinzunehmen.“

    Dazu folgt alsbald ein weiterer Beitrag, zu dem ich hoffentlich bald komme. :-)

  29. Ich glaube, durch unsere unterschiedliche Positionierung wird eine Diskussion überhaupt erst möglich. Das mag eine lapidare Feststellung sein, doch ergibt sich daraus folgender Gedanke und Feststellung:
    Es ist einerseits möglich, durch Argumentationen jemand von seiner eigenen Position zu überzeugen. Dabei richtet sich der Blick und das Denken auf den Gegenüber.
    Es ist andererseits möglich, aus den Argumentationen sein eigenes Denken und Fühlen zu hinterfragen. Dieser Blick richtet sich an das eigene Innere. Dieser Weg wäre für mich das eigentlich wertvolle an solchen Gesprächen.

    Und da hast du Recht @Gerhard, wir sind nicht aus Holz, und wir sind nicht perfekt. Und uns dies selbst einzugestehen, aus dem perfekten „Made in Germany“ und unserer sogenannten und vom Begriff her bezeichneten „Schamkultur“ ist m.E. nach ein riesiger Schritt nach vorne.

    Natürlich finde auch ich es schön, wenn einer sagt, deine Gedanken sind stimmig und ich kann ihnen folgen. Damit ist aber auch der Prozess des Findens zu Ende.

    Ich möchte schon gerne für mich wissen, wo mache ich mir selber etwas vor, wo und warum schaue ich nicht genau hin. Insofern sind mir Hinweise und Deutungen zu meinen Dissonanzen wichtig, auch wenn ich manchmal länger dazu brauche, sie aufzunehmen.

    Warum nun diese lange Einleitung?
    Als erstes habe ich nochmals den im Orignal Beitrag aufgeführten Abschiedssatz von Gunther Sachse gelesen und komme zu der Auffassung, das ich dazu überhaupt und gar nichts dazu sagen kann.
    Ich habe überhaupt keine Vorstellung von den Werten und Begriffen der „geistigen Kontrolle“, „würdelos“, „entschlossen“ … wie sie für Herrn Sachs galten. Ich habe nur meine eigenen und diese stellen keine allgemeinen und für die Gesellschaft verbindlichen Gesetze dar, sondern sind lediglich meine Schnurr, nach der ich versuche zu leben und zu handeln. Meine zu überprüfen, korrigieren oder zu festigen, das ist der Sinn des Austausches hier.
    Und das ist gut. Warum?

    Wenn ich @Susannes Worten nochmal nachspüre, so gibt es wohl auch Momente bei mir, die ich mit „Verachtung“ bezeichnen würde, auch, das sie heimlich geschehen. Ich gehe auch soweit zu meinen, das sich dies in dem dafür typischen Gesichtsausdruck äußert.
    Allerdings kann ich dabei nicht das Gefühl finden, das es auf mich niederdrückend wirkt, weil keine Taten folgen.
    Ich würde diese Verachtung genau so wenig äußern, wie ich jemanden ins Gesicht sagen würde: Mit deinem eitrigen Pickel auf der Nase siehst du aber noch mehr nach Scheiße aus wie Quasimodo.

    Aus meiner Vorstellung, das „Verachtung“ das tödliche Gift einer jeden Beziehung ( in allen möglichen Formationen) ist, erschrecke ich in diesen Momenten und frage mich meist im zweiten Gedanken: Wie konnte es zu dem Moment der Verachtung kommen.

    Dabei stelle ich meist fest, das ich mir überhaupt keine Mühe gemacht habe, mich in den Anderen hineinzuversetzen und den Werdegang seines Tuns nach zu empfinden. Je mehr ich das aber tue, je nachvollziehbarer wird mir sein Tun, gibt es ein verstehen (das noch kein akzeptieren sein muss) schwindet die Verachtung wie Eis in der Sonne. Es ist das von @Gerhard schon angesprochene: walk a mile in my shoes.

    „Verachtung“, egal für wen, ist nach meinem bisherigen recht oberlächlichen Nachdenken NICHTS, im Gegensatz zu Haß, Wut oder Ekel, was die Welt wirklich braucht. Sie steht für die tiefe Kluft zwischen Menschen, deren Bau einer Brücke zum Verstehen nicht wert ist.

    So, und jetzt lese ich nochmal in Ruhe, was bisher dazu geschrieben wurde.

  30. @Claudia
    Bitte streiche dann das ’sich‘ nach dem letzten Komma, ich hatte den Kommentar direkt hier eingetippt, und da läßt sich leider nachher nichts mehr ändern. Danke im Voraus!

    @Gerhard
    Vermutungen über andere Menschen (so sie nicht in Beleidigungen oder Verleumdungen münden) zu äußern, halte ich für legitim in einer Diskussion, die sich mit sehr menschlichen Fragen befaßt. Und was Du als Inhalt Deiner Vermutungen über die Quellen eines ‚rigiden Urteils‘ beschreibst, gehört sicherlich zu einer Sozialisation unter eher strengen Vorgaben und Anforderungen an Leistungsbereitschaft und -fähigkeit zur Konstruktion des sozialen Egos.
    Ich denke aber, daß das ein anderes Thema wäre, das vielleicht auch gut zu Claudias von mir mit Spannung erwarteten Gedanken passen könnte.

    @Menachem
    Verachtung braucht die Welt wie alles, wofür wir Worte haben, sonst wäre sie nicht Welt, sondern nur eine Aufnahmestudio. Wie könntest du etwas in den Himmel heben, stünden deine Füße nicht fest auf einer Erde, die unter sich die Hölle birgt?

  31. Es ist schon so, @Susanne, auch Verachtung gehört zu uns, wie wohl Haß, Neid, Wut…. Die Natur ist nicht verschwenderisch, wie schon jemand sagte und dem ich zustimme. Was jeder damit anfängt und wie er damit umgeht, das ist wohl auch eine sehr persönliche Sache, deren Ursprung in den einzelnen Biographien liegt und wahrscheinlich erst ein Verstehen der unterschiedlichen Betrachtung ermöglicht.

    Ich halte es im Moment mit diesen eher negativ besetzten, na ich sag mal Gefühlen, so wie Gerhard, der den Grund seiner Verachtung hauptsächlich in seinem letzten Absatz zu erkennen versucht, worin ja auch gleichzeitig die Möglichkeit liegt, sich damit auseinanderzusetzen und möglicherweise eine eigene Veränderung herbei geführt werden kann.